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„Wo kommt denn die Musik her?“ 

An diese Frage, gerichtet an meine Mutter, erinnere ich mich noch ganz genau, als Ende der 1950er-Jahre als Kennzeichen eines beginnenden bescheidenen Wohlstandes ein Radio ins Haus kam. Die Beantwortung dieser Frage führte dazu, dass ich mich bei meinem Klavierlehrer (einem Repetitor des Hannoverschen Staatstheaters) hauptsächlich für Generalbassspiel, Harmonielehre und Kontrapunkt interessierte.

Um 1970 war die musikalische Avantgarde radikal. Verlor sich eine Terz in ein Werk, kollaborierte der Autor mit den musikalischen Museenverwaltern. Ich empfand dies nur als unnötige Einschränkung. Unsinnig fand ich auch die seitenlangen Texteinführungen für wenige Sekunden Musik, die mir dann trotzdem rätselhaft blieb. Sollte Musik nicht auch deshalb Musik sein, weil ihre Aussage eben nicht in Worte zu fassen ist? Wie war ein Spannungsauf- bzw. -abbau zu gestalten, wenn es für den Zuhörer keine erfahrbare Zugehörigkeit gab und dadurch auch keine Fremde?

Ich fand keine Antworten, studierte Dirigieren und beschäftigte mich 30 Jahre mit Noten, die schon auf dem Papier standen und begann erst danach wieder, selbst Noten auf’s Papier zu bringen.

Bei einer Arbeit an Instrumentationen entstanden 2003 kompositorische Ideen, die meine Fragen aus den 70er Jahren teilweise beantworteten. Ich nahm diese Gedanken erst nicht sehr ernst, aber sie nisteten hartnäckig. Lag es daran, dass die Musikrezeption inzwischen viel liberaler oder dass mir die Einordnung in progressiv oder konservativ gleichgültig geworden war, weil sie für die Qualität einer Komposition irrelevant ist? Jedenfalls nahm ich einen Sommer, schrieb alles auf, instrumentierte es und zeigte das Ergebnis einigen befreundeten Komponisten und schließlich Dennis Russell Davies. Ihm und etlichen Musikern danke ich, die nach neuer Musik fragen und sich für sie einsetzen – eine Ermutigung, die mich zum Weiterschreiben motiviert.
Ingo Ingensand